Vor über hundert Jahren – kurz nach dem ersten Weltkrieg – gründete Reinhard Helmert in Dörnthal den sozialdemokratisch orientierten Arbeiterradfahrverein „Solidarität“. Innerhalb weniger Monate traten viele Mitglieder bei.

Das Fahrrad wurde gerade im Dorf populär. Besonders die jungen Leute zeigten sich begeistert von den Möglichkeiten, die der Verein bot. An Sonntagen wurden gemeinsame Ausflüge organisiert  und schon bald bildete sich eine Reigengruppe, die mit  verschiedenen Choreografien bei Vereinsbällen oder Dorffesten auftrat. Ein Foto aus dem Jahre 1926 zeigt etwa 30 Mitglieder. Darauf ist zu erkennen, dass die jüngeren Mitglieder weiße Kleidung und Fliege wie bei ihren Auftritten tragen und die älteren Männer in dunklen Anzügen vermutlich aus politischen Gründen an der Vereinsarbeit teilnahmen.

Anfang der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts übernahm Eugen Drechsel den Vorsitz im Verein. Außer einigen Bällen und einzelnen Veranstaltungen finden sich im Gemeindearchiv nur wenige Hinweise auf seine weitere Existenz. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, wenn man in den Akten folgende Meldung aus Dörnthal an die Amtshauptmannschaft in Freiberg liest: „Die beschlagnahmten Sachen des Arbeiterradfahrvereins sind vernichtet.“ Darin aufgezählt werden das Protokoll- und Kassenbuch sowie das Banner. Das entsprach jedoch offenbar nicht ganz der Wahrheit, denn nach 1945 tauchte zumindest die Fahne im Ort wieder auf.

Reinhard Helmert hatte das Banner vor der Vernichtung gerettet und es 12 Jahre lang unter Gefahr für Leib und Leben in seinem Haus versteckt. Die beiden dazugehörigen Fahnenbänder wurden erst 1979 von Walter Thiele gefunden und dem Gemeindearchiv übergeben. Heute kann man beides bei einem Besuch des Heimatmuseums Dörnthal betrachten.

Dank der Aufzeichnungen von Reinhard Helmert ist ein außergewöhnliches Abenteuer im Zusammenhang mit dem Arbeiterradfahrverein „Solidarität“ bis in die heutige Zeit erhalten geblieben: Die Reise mit den Rädern nach Rom zur Papstaudienz. Vor 88 Jahren, genau am 23.04.1930, machten sich der Gründer des sozialdemokratischen Arbeiterradfahrvereins „Solidarität“, der 30-jährige Reinhard Helmert und der 17-jährige Rudenz Talkenberger, der gerade seine Lehre als Stellmacher abgeschlossen hatte, von Dörnthal aus auf den Weg nach Rom. Beide waren drei Wochen unterwegs, ehe sie ihr Ziel erreichten. Während sie auf den Alpen- und Dolomitenpässen mit Schnee, Eis und Kälte zu kämpfen hatten, empfing sie Rom mit schönstem Frühlingswetter.

Dort trafen sie nach vorheriger Absprache den ehemaligen Dörnthaler Lehrer Otto Landmesser, der an der deutschen Schule in Rom arbeitete. Er zeigte ihnen die Weltstadt. Von Rom aus unternahmen die beiden Dörnthaler eine Fahrt mit der Eisenbahn über Neapel bis nach Sizilien. Nach diesem Abstecher traten sie wieder die Heimreise nach Deutschland an. Dabei benutzten sie streckenweise – besonders in den Alpen – die Eisenbahn, da die Bereifung ihrer Räder stark abgefahren war. Sie hatten in Italien trotz vieler Versuche keine neuen bekommen. Ihr Weg führte durch die Schweiz, den Rhein entlang über Bremen, Hamburg, Berlin und Dresden zurück nach Dörnthal. Sie kamen nach acht Wochen wieder wohlbehalten im Heimatort an. Ohne die Hilfe der Arbeiterradsportvereine in Süddeutschland z. B. bei der Quartiersuche wäre diese Fahrt wohl nicht so erfolgreich verlaufen.

Reinhard Helmert schrieb seine Abenteuer u. a. wie sie zu der Audienz beim Papst kamen, in seiner deutschen Sütterlinschrift auf einzelne Blätter. Diese losen Seiten fasste der ehemalige Dörnthaler Heiner Haustein im Jahre 2002 zu einem maschinenschriftlichen leicht lesbaren Manuskript zusammen und versah es mit einem Nachwort. Das Titelblatt dieses Manuskripts ziert wohl das einzige Foto von dieser Fahrt: Reinhard (Had) Helmert und Rudenz Talkenberger vor dem Deutschen Reichstag in Berlin im Jahre 1930.

Klaus Jablinski
Ortschronist von Dörnthal